Prof. Dr. Dr. h.c. Gil Carlos Rodríguez Iglesias Präsident des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften
Zu den Grenzen der
verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei
der Anwendung des Gemeinschaftsrechts
Vortrag aus Anlaß der Verleihung der Ehrendoktorwürde
Universität des Saarlandes Saarbrücken 10. Juli 1997
Magnifizenz,
Spectabilis,
sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen des Richtertums und der Wissenschaft,
sehr verehrte Damen und Herren,
meine ersten Worte müssen Dankworte
sein.
Mein Dank gilt an erster Stelle der
Universität des Saarlandes und ihrer Rechtsfakultät
für die ehrenvolle Auszeichnung mit einer
Ehrendoktorwürde. Mein Dank gilt ebenfalls dem Dekan,
Herrn Professor Rüßmann, für seine herzlichen
Begrüßungsworte.
Ganz besonders möchte ich Herrn
Professor Stein meinen Dank für seine liebenswürdige
Laudatio aussprechen.
Herr Kollege Stein ist ein guter und
langjähriger Freund. Seine Würdigung meiner Person
läßt natürlich diese Freundschaft erkennen. Ihre
Worte, Herr Kollege, lieber Torsten, haben mich im Herzen
berührt.
Die Verleihung der Ehrendoktorwürde
durch die Universität des Saarlandes hat für mich eine
ganz besondere Bedeutung, und zwar aus verschiedenen
Gründen.
Zwei dieser Gründe möchte ich
hervorheben, nämlich die europäische Bedeutung dieser
Universität sowie die Tatsache, daß es sich um eine
deutsche Universität handelt.
Daß die europäische Dimension eine
charakteristische Eigenschaft der Universität des
Saarlandes darstellt, ist wohlbekannt. Dies ist durch die
Geschichte und die geographische Lage des Saarlandes zu
erklären und zeigt sich insbesondere in der Bedeutung
des Europa-Instituts, mit dem verschiedene Mitglieder und
Mitarbeiter des Europäischen Gerichtshofes sowie ich
selbst eine starke Verbindung haben.
Für mich, sowohl als europäischer
Richter wie auch als Wissenschaftler, der sich ganz
besonders dem Europarecht gewidmet hat, ist es natürlich
besonders erfreulich, von einer durch die europäische
Dimension sowie durch die wissenschaftliche Forschung und
Lehre von europäischen Fragen charakterisierten
Universität eine Ehrendoktorwürde zu erhalten.
Daß es sich um eine deutsche
Universität handelt, hat für mich ebenfalls eine
besondere persönliche Bedeutung, weil ich einen
erheblichen Teil meiner akademischen
"Wanderjahre" in Deutschland verbracht habe;
hier habe ich meine Kenntnisse des Europarechts vertieft
und bin seit dieser Zeit mit der deutschen Wissenschaft
in enger Verbindung geblieben; diese Verbindung wird
durch die ehrenvolle Auszeichnung der Universität des
Saarlandes bekräftigt.
Lassen Sie mich nun zu meinem Thema
kommen, das sich mit den Grenzen der
verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei
der Anwendung des Gemeinschaftsrechts befaßt.
Einführung
Wichtige Gebiete des
Gemeinschaftsrechts beanspruchen unmittelbare Geltung in
den Mitgliedstaaten und sind dazu bestimmt, Rechte und
Pflichten für die Adressaten dieser Normen zu
begründen. Da die Gemeinschaft, von wenigen Ausnahmen
abgesehen, z. B. im Wettbewerbsrecht, nicht über eigene
Vollzugsorgane verfügt, kann sich die Wirksamkeit des
Gemeinschaftsrechts erst durch die Mitwirkung der
innerstaatlichen Organe entfalten.
Soweit das Gemeinschaftsrecht keine
Vorgaben zur verfahrensrechtlichen Handhabung seiner
Bestimmungen festlegt, obliegt es den Handlungsträgern
der Mitgliedstaaten, vor allem den Behörden und
Gerichten, die in Frage kommenden Vorschriften des
nationalen Verfahrensrechts heranzuziehen. Ich möchte
dies als den Grundsatz der institutionellen und
Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bezeichnen, ein
Begriff, den man in der deutschsprachigen
europarechtlichen Literatur aber nicht oder kaum
vorfindet. Dieser Grundsatz, der in keiner
Vertragsbestimmung ausdrücklich niedergelegt ist,
stellte lange vor der formellen Proklamation des
Subsidiaritätsprinzips ein anschauliches Beispiel für
die dezentrale Anwendung des Gemeinschaftsrechts
dar.
Die hiermit umschriebene Autonomie der
Mitgliedstaaten ist umfassend zu verstehen und schließt
sowohl Organisationsgewalt und nationale
Rechtswegbestimmungen ein. Nur soweit das
Gemeinschaftsrecht selbst zwingende Verfahrensnormen
aufstellt, sind die Organe der Mitgliedstaaten gehalten,
diesen konkreten Handlungsanweisungen zu folgen.
Da sowohl primäres als auch
sekundäres Gemeinschaftsrecht zahlreiche subjektive
Rechte zugunsten von Gemeinschaftsbürgern begründet
haben, ohne aber vorzuschreiben, auf welche Weise diesen
Rechten in den Mitgliedstaaten zur Durchsetzung verholfen
werden muß und welche Rechtsbehelfe bei einer Verletzung
dieser Rechte zur Verfügung stehen, ist es wichtig, die
Frage nach den Grenzen der nationalen Kompetenzen bei der
Ausführung des Gemeinschaftsrechts zu stellen .
Auf diese Frage möchte ich im
folgenden näher eingehen.
Gewährleistung effektiven
Rechtsschutzes im Rahmen der Grundfreiheiten
Als erstes Beispiel für das Einwirken
des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verfahrensrecht
möchte ich die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum
effektiven Rechtsschutz im Rahmen der im Vertrag
niedergelegten Grundfreiheiten erwähnen. Um die
Wirksamkeit dieser subjektiven Rechte zu garantieren,
müssen die Mitgliedstaaten nicht nur die erforderlichen
gesetzlichen Maßnahmen ergreifen, sondern auch
sicherstellen, daß den durch einen Verwaltungsakt
betroffenen Gemeinschaftsbürgern Rechtsbehelfe zur
Verfügung stehen, um die durch den Vertrag gewährten
Rechte vor den zuständigen nationalen Stellen geltend zu
machen.
Diese Rechtsprechung, nach der die
Grundfreiheiten des EG-Vertrages auch das Postulat
beinhalten, daß Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die
diese Rechte beschränken, gerichtlicher Überprüfung
zugänglich sein müssen, ist unter anderem in der
Urteilen Heylens (Freizügigkeit) und GB-Inno (freier
Warenverkehr) besonders herausgestellt worden.
Grundsätze der Rechtsprechung zu
den durch das Gemeinschaftsrecht bedingten
Einschränkungen des nationalen Verfahrensrechts
Die wichtigsten Aussagen des
Gerichtshofes zu den Grenzen des nationalen
Verfahrensrechts beziehen sich auf Sachverhalte, in denen
es um die Rückerstattung von Abgaben ging, die von
nationalen Behörden unter Verstoß gegen
Gemeinschaftsrecht erhoben worden waren. Es handelt sich
um die bekannten Urteile Rewe aus dem Jahr 1976 und San
Giorgio aus dem Jahr 1981.
In diesem letztgenannten Urteil stellte
der Gerichtshof fest, "daß das Recht auf Erstattung
von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen
die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts erhoben hat,
eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die
den einzelnen durch die gemeinschaftsrechtlichen
Vorschriften eingeräumt worden sind, nach denen Abgaben
mit gleicher Wirkung wie Zölle oder gegebenenfalls die
diskriminierende Erhebung von inländischen Abgaben
verboten sind. Zwar trifft es zu, daß die Erstattung nur
im Rahmen der in den verschiedenen einschlägigen
nationalen Rechtsvorschriften festgelegten materiellen
und formellen Voraussetzungen betrieben werden kann;
diese Voraussetzungen dürfen jedoch nicht ungünstiger
sein als bei ähnlichen Klagen, die nur innerstaatliches
Recht betreffen, und sie dürfen nicht so ausgestaltet
sein, daß sie die Ausübung der Rechte, die die
Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch
unmöglich machen."
Die bis heute gültigen
gemeinschaftsrechtlichen Grundanforderungen an das
nationale Verfahrensrecht beinhalten also zwei Elemente:
das der "Nichtdiskriminierung" sowie das der
"Effizienz" oder der praktischen Wirksamkeit
der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten subjektiven
Rechte.
Ausprägungen dieser Grundsätze im
Bereich der sozialen Sicherheit
Das soeben beschriebene Prinzip ist vom
Gerichtshof auf dem Gebiet der Gleichbehandlung von
Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit
und im Arbeitsleben weiterentwickelt worden.
Was gerichtliche Beweislastregeln in
diesem Bereich angeht, stellte der Gerichtshof im
Danfoss-Urteil vom 17.10.1989 zur Auslegung von Artikel 6
der Richtlinie 75/117 über die Lohngleichheit fest, daß
die Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen
Verhältnisse und ihrer Rechtssysteme die Maßnahmen
treffen müssen, die erforderlich sind, um die Anwendung
des Grundsatzes des gleichen Entgelts zu
gewährleisten." Das Bemühen um Effektivität, das
der Richtlinie zugrunde liegt, muß dazu führen, diese
dahin auszulegen, daß sie Änderungen der nationalen
Beweislastregeln in den Sonderfällen impliziert, in
denen solche Änderungen für die wirksame Durchführung
des Gleichheitsgrundsatzes unerläßlich sind."
Dementsprechend muß "der Arbeitgeber zum Beweis
dafür, daß seine Lohnpolitik die weiblichen
Arbeitnehmer nicht systematisch benachteiligt, angeben,
wie er die Zulagekriterien angewandt hat, und wird auf
diese Weise dazu veranlaßt, sein Entlohnungssystem
durchschaubar zu machen."
Im Urteil Emmott vom 25.7.1991 ging es
um die Frage, welche rechtlichen Konsequenzen daraus zu
ziehen waren, daß die Richtlinie 79/7 nicht
ordnungsgemäß in das betreffende nationale Recht
umgesetzt worden war. Als die Klägerin die in der
Richtlinie vorgesehenen Leistungsansprüche geltend
machte, beriefen sich die zuständigen Behörden auf die
Nichteinhaltung der im nationalen Recht festgelegten
Fristen.
Das vorlegende Gericht warf deshalb die
Frage auf, ob diese Fristbestimmungen angesichts der
unzureichenden Umsetzung der Richtlinie dem
Anspruchsberechtigten entgegengehalten werden
konnte.
Hier möchte ich die Ausführungen des
Gerichtshofes wörtlich zitieren:
"Solange eine Richtlinie nicht
ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt wurde, sind
die einzelnen nicht in die Lage versetzt worden, in
vollem Umfang von ihren Rechten Kenntnis zu erlangen
...
Nur die ordnungsgemäße Umsetzung der
Richtlinie beendet diesen Zustand der Unsicherheit, und
erst mit dieser Umsetzung wird die Rechtssicherheit
geschaffen, die erforderlich ist, um von den einzelnen
verlangen zu können, daß sie ihre Rechte geltend
machen.
Hieraus folgt, daß sich der säumige
Mitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen
Umsetzung der Richtlinie nicht auf die Verspätung einer
Klage berufen kann, die ein einzelner zum Schutz der ihm
durch die Bestimmungen dieser Richtlinie verliehenen
Rechte gegen ihn erhoben hat, und daß eine Klagefrist
des nationalen Rechts erst zu diesem Zeitpunkt beginnen
kann."
Nach diesen Aussagen wurden
Befürchtungen über die Auswirkungen dieses Urteils
laut.
Allerdings stellt sich die Tragweite
des Emmott-Urteils angesichts der nachfolgenden
Rechtsprechung als weit begrenzter dar als es die
vorerwähnten Reaktionen nahelegen.
Nach den Urteilen Steenhorst-Neerings
und Johnson sind Vorschriften, die die Rückwirkung von
Anträgen auf Gewährung einer Leistung begrenzen, anders
zu beurteilen als eine Vorschrift, die eine
Ausschlußfrist für eine Klage bestimmt. Laut
Gerichtshof entspricht eine Rückwirkungsregelung den
Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Verwaltung und
auch der Notwendigkeit, das finanzielle Gleichgewicht des
öffentlichen Leistungssystems zu erhalten.
In Johnson-Urteil hat der Gerichtshof
hervorgehoben, daß die Entscheidung im Emmott-Urteil
"durch die besonderen Umstände dieses Falles
gerechtfertigt war, in dem der Klägerin durch den Ablauf
der Klagefrist jegliche Möglichkeit genommen war, ihren
auf die Richtlinie gestützten Anspruch auf
Gleichbehandlung geltend zu machen".
Dennoch ist die Frage der Tragweite des
Emmott-Urteils noch nicht völlig geklärt.
In der anhängigen Rechtssache Fantask
steht diese Frage wieder im Mittelpunkt.
Maximen des nationalen
Gerichtsverfahrensrechts
Alle innerstaatlichen Gerichtsverfahren
werden von verschiedenen fundamentalen Grundsätzen
bestimmt, die die Art und den Umfang (oder: das
"Ob" und das "Wie") richterlicher
Handlungen bestimmen.
Auch diese elementaren Prinzipien des
innerstaatlichen Prozeßrechts können vom
Gemeinschaftsrecht nicht völlig unberührt
bleiben.
Ich möchte mich vor allem mit zwei am
14.12.1995 ergangenen Urteilen befassen, in denen es um
die wichtige Frage ging, ob und wenn ja in welchem Umfang
nationale Gerichte die Verpflichtung haben, von Amts
wegen die Vereinbarkeit von innerstaatlichem Recht mit
dem Gemeinschaftsrecht zu prüfen.
Diese Urteile sind auch deswegen
interessant, weil der Gerichtshof, obwohl er in beiden
Fällen dieselben Beurteilungskriterien zugrundelegte,
jeweils zu einem unterschiedlichen Ergebnis
gelangte.
In der Rechtssache Peterbroeck wollte
das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob das
Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen
Verfahrensvorschrift entgegensteht, die es einem
nationalen Gericht verbietet, die Vereinbarkeit eines
innerstaatlichen Rechtsakts mit einer Vorschrift des
Gemeinschaftsrechts von Amts wegen zu prüfen, wenn sich
kein Verfahrensbeteiligter innerhalb einer bestimmten
Frist auf die letztgenannte Vorschrift berufen hat.
Um diese Frage zu beantworten, verwies
der Gerichtshof auf die von mir bereits dargestellte
Rechtsprechung Rewe-San Giorgio und insbesondere auf das
Kriterium, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die
Anwendung des Gemeinschaftsrechts "unmöglich macht
oder übermäßig erschwert".
Sodann und dies ist ein wesentlicher
neuer Gesichtspunkt hob der Gerichtshof hervor, daß zur
Feststellung, ob eine solche "Unmöglichkeit"
oder "Erschwerung" gegeben ist, es erforderlich
ist, die "Stellung dieser Vorschrift im gesamten
Verfahren, den Verfahrensablauf und die Besonderheiten
des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen
zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu
berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem
zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der
Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit
und der ordnungsgemäße Ablauf des
Verfahrens."
Die fragliche Bestimmung des
innerstaatlichen Rechts schloß die Erhebung einer neuen,
auf Gemeinschaftsrecht gestützten Rüge nach Ablauf
einer relativ kurzen Frist nach Zustellung des
angefochtenen Verwaltungsakts aus.
Die Kürze der Frist als solche wurde
vom Gerichtshof nicht beanstandet, jedoch waren es die im
Urteil beschriebenen "Besonderheiten" des
fraglichen Verfahrens, die den Gerichtshof zu dem
Ergebnis kommen ließen, daß es dem nationalen Richter
möglich sein mußte, von Amts wegen die Vereinbarkeit
eines innerstaatlichen Rechtsaktes mit einer Vorschrift
des Gemeinschaftsrechts zu prüfen.
In dem Urteil Van Schijndel und Van
Veen kam der Gerichtshof zu einem anderen Ergebnis.
Unter Hinweis auf das im
Peterbroeck-Urteil entwickelte Kriterium, die fragliche
innerstaatliche Verfahrensbestimmung im Lichte ihres
Kontexts auszulegen, führte der Gerichtshof aus, daß
der Grundsatz, daß der Richter in einem Zivilverfahren
von Amts wegen bestimmte Gesichtspunkte prüfen muß oder
kann, durch den besonderen Charakter dieses Verfahrens
begrenzt ist.
Diese Begrenzung wurde vom Gerichtshof
damit gerechtfertigt, "daß die Initiative in einem
Prozeß den Parteien zusteht und das Gericht nur in
Ausnahmefällen von Amts wegen tätig werden darf, in
denen das öffentliche Interesse sein Eingreifen
erfordert. Dieses Prinzip ist Ausdruck der von den
meisten Mitgliedstaaten geteilten Auffassungen vom
Verhältnis zwischen Staat und Individuum, es schützt
die Verteidigungsrechte und gewährleistet den
ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens, insbesondere
indem es dieses vor den mit der Prüfung neuen
Vorbringens verbundenen Verzögerungen
bewahrt."
Nationales
Verwaltungsverfahrensrecht und rechtswidrige Beihilfen
Die Rückabwicklung von zu Unrecht
gezahlten nationalen oder Gemeinschaftsbeihilfen hat in
zahlreichen Fällen zu Konflikten zwischen dem Postulat
der Beseitigung des erlangten rechtswidrigen Vorteils und
Bestimmungen des innerstaatlichen
Verwaltungsverfahrensrechts geführt.
Die von der Rechtsprechung entwickelten
Grundsätze sind in diesem Bereich dieselben wie auf
anderen Gebieten des Gemeinschaftsrechts. Dies bedeutet,
daß die Rückforderung nach nationalem
Verwaltungsverfahrensrecht erfolgt, dabei aber die
einschlägigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften so
anzuwenden sind, daß die Rückforderung nicht unmöglich
gemacht wird und sich keine Ungleichbehandlungen im
Vergleich zu rein nationalen Verfahren ergeben.
Diese Grundsätze wurden vom
Gerichtshof ausführlich im Fall Deutsche Milchkontor, in
dem es um die Rückforderung von zu Unrecht gezahlten
Gemeinschaftsbeihilfen ging, dargestellt.
Aus diesem Urteil ergibt sich, daß das
nationale Recht, konkret : das deutsche Recht,
insbesondere § 48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des
Bundes bzw. die entsprechenden, damit weitgehend
übereinstimmenden Verwaltungsverfahrensgesetze der
Länder, anwendbar ist; dies gilt auch für die Frage des
Vertrauensschutzes, wobei aber die Rücknahme eines
rechtswidrigen Verwaltungsaktes von einer Abwägung der
verschiedenen streitigen Interessen abhängig ist und das
Interesse der Gemeinschaft in vollem Umfang zu
berücksichtigen ist.
Die Anwendung derselben Grundsätze auf
die Rückforderung von zu Unrecht gezahlten nationalen
Beihilfen führt indes zu einer weitergehenden
Einschränkung bei der Anwendung der einschlägigen
innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Dieses nur auf den
ersten Blick paradoxale Ergebnis, das auch nicht immer im
Schrifttum verstanden worden ist, wird bei einer
aufmerksamen Betrachtung der Urteile, die den Alcan-Fall
betreffen, verständlich.
Diese Urteile verdeutlichen nämlich
die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an das
nationale Verfahrensrecht, die wegen der gebotenen
Beseitigung des rechtswidrigen Wettbewerbsurteils
vorgeschriebene Rückforderung nicht "praktisch
unmöglich" zu machen. Diese Anforderungen und
darauf hat auch Generalanwalt Jacobs ausdrücklich
hingewiesen -- gelten insbesondere für die
innerstaatlichen Regeln des Vertrauensschutzes.
Nach den Alcan-Urteilen des
Gerichtshofes sollte klar sein,
daß sich ein Mitgliedstaat, der für
eine rechtswidrige Beihilfe verantwortlich ist, nicht auf
den Vertrauensschutz im Hinblick auf den Empfänger der
Subvention berufen kann,
daß der Empfänger einer unter
Verletzung der in Artikel 93 EG-Vertrag niedergelegten
Verfahrensregeln gewährten Beihilfe grundsätzlich nicht
auf die Rechtmäßigkeit der Beihilfe vertrauen
kann.
Hinsichtlich des zweiten Punktes sollte
hinzugefügt werden, daß es dem Subventionsempfänger
unbenommen bleibt, außergewöhnliche, gegen die
Rückzahlung sprechende Umstände geltend zu machen, die
das nationale Gericht würdigen müßte.
Auch steht der Umstand, daß die in §
48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes bestimmte Frist für
die Rückforderung der rechtswidrigen Beihilfe von der
zuständigen innerstaatlichen Behörde versäumt wurde,
der nach Gemeinschaftsrecht gebotenen Rückzahlung nicht
entgegen.
Schließlich vermag auch die
Verantwortlichkeit der innerstaatlichen Behörden für
die Rechtswidrigkeit der Beihilfe keinen guten Glauben zu
begründen, der die Rückforderung der Subvention
unmöglich machen könnte.
Diese wichtigen Einschränkungen der
nationalen Verfahrensautonomie erklären sich durch die
besondere Rolle der innerstaatlichen Behörden bei der
Gewährung von gemeinschaftswidrigen Beihilfen. Aus
diesem Grunde besteht eben ein fundamentaler Unterschied
zwischen der Rückforderung rechtswidriger nationaler
Subventionen und der Rückabwicklung rechtswidriger
Gemeinschaftsbeihilfen. Eine Berufung auf den Grundsatz
des Vertrauensschutzes bei zu Unrecht gezahlten
nationalen Beihilfen würde den ungerechtfertigten
Wettbewerbsvorteil schützen, der ja gerade aufgrund der
gemeinschaftsrechtlichen Regeln zu beseitigen ist.
Schadensersatz wegen Verletzung von
Gemeinschaftsrecht
Auch im Bereich der Haftung der
Mitgliedstaaten für Schäden, die der Einzelne durch
Verletzungen des Gemeinschaftsrechts erleidet, gelten die
im Urteil San Giorgio aufgestellten Grundsätze. Die
Bestimmung der Entschädigung erfolgt nach nationalem
Recht, dies jedoch unter Beachtung der durch das
Gemeinschaftsrecht bedingten Mindestanforderungen.
Die im Schadensersatzrecht der
Mitgliedstaaten festgelegten materiellen und formellen
Voraussetzungen dürfen dabei nicht ungünstiger sein als
bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht
betreffen, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein,
daß sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig
erschweren, die Entschädigung zu erlangen.
Die wichtigsten Aussagen zu den
Modalitäten der gerichtlichen Durchsetzung von
Schadensersatzansprüchen wegen gemeinschaftswidrigem
gesetzgeberischen Handelns hat der Gerichtshof in seinem
Urteil Brasserie du Pęcheur vom 5.3.1996 gemacht.
Zu der Frage, inwieweit nationale
Rechtsvorschriften, die die Zuerkennung von
Schadensersatz wegen Verletzung von Gemeinschaftsrecht
erschweren, mit eben diesem Recht vereinbar sind,
bekräftigte der Gerichtshof den Grundsatz, daß die im
innerstaatlichen Recht festgelegten Voraussetzungen nicht
ungünstiger sein dürfen als bei entsprechenden auf
nationales Recht gestützten Ansprüchen. Im Hinblick auf
gesetzgeberisches Unrecht zeigte der Gerichtshof auf,
daß die Anwendung gängiger nationaler Haftungsregeln zu
einer erheblichen Erschwerung oder sogar zum Ausschluß
gemeinschaftsrechtlich gebotener Haftungsansprüche
führen kann.
Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts
auf nationale Rechtswege : Vorläufiger Rechtsschutz und
Klagebefugnis vor nationalen Gerichten
Schließlich komme ich zu denjenigen
Aspekten, die meines Erachtens die intensivste Auswirkung
des Gemeinschaftsrechts auf die Verfahrensautonomie der
Mitgliedstaaten darstellen. Es handelt sich um
Fallgruppen, in denen nationale Verfahrensregeln und
Rechtswege in fundamentaler Weise den Erfordernissen des
Gemeinschaftsrechts angepaßt werden müssen.
Hierzu soll zunächst die inzwischen
wohlbekannte Rechtsprechung des Gerichtshofes zum
vorläufigen Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten
erwähnt werden.
Im Urteil Factortame vom 19.6.1990
stellte der Gerichtshof fest, daß der nationale Richter
auch dann vorläufigen Rechtsschutz gewähren muß, wenn
das nationale Recht eine solche Möglichkeit nicht
vorsieht, eine einstweilige Anordnung aber erforderlich
ist, um den Schutz subjektiver Gemeinschaftsrechte zu
gewährleisten. Obwohl es in diesem Fall um eine
Verfahrensfrage ging, stellte der Gerichtshof nicht so
sehr auf die Frage der Schaffung neuer Rechtsbehelfe ab,
sondern vielmehr auf die Grenzen des nationalen Rechts in
bezug auf die volle Wirksamkeit von
Gemeinschaftsrechten.
Auch im Hinblick auf die
Rechtshandlungen der Gemeinschaft hat der Gerichtshof die
Befugnis der nationalen Gerichte bekräftigt,
einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Im
Zuckerfabrik-Urteil vom 21.2.1991 nahm der Gerichtshof zu
der Frage Stellung, ob Artikel 189 Absatz 2 EG-Vertrag
nationalen Gerichten verbietet, die Vollziehung eines auf
einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen
Verwaltungsakts auszusetzen.
Dazu bemerkte der Gerichtshof, daß
Artikel 189 Absatz 2 nicht den Rechsschutz verkürzen
kann, der den Gemeinschaftsbürgern zusteht. Dieser
Rechtsschutz umfaßt auch das Recht, die Rechtmäßigkeit
von Gemeinschaftsverordnungen vor nationalen Gerichten zu
bestreiten und diese zur Befassung des Gerichtshofes mit
Vorlagefragen zu veranlassen. Nach Ansicht des
Gerichtshofes wäre dieses Recht gefährdet, "wenn
der Bürger trotz des Vorliegens bestimmter
Voraussetzungen solange nicht in der Lage wäre, eine
Aussetzung der Vollziehung zu erreichen und damit für
sich der Verordnung einstweilen die Wirksamkeit zu
nehmen, als es an einem Urteil des Gerichtshofes
fehlt."
Im Atlanta-Urteil vom 9.11.1995 hat der
Gerichtshof die schon im Zuckerfabrik-Urteil definierten
Voraussetzungen der Aussetzung durch den nationalen
Richter bestätigt und weiter konkretisiert.
Diese Rechtsprechung bedeutet eine
Bekräftigung des vorläufigen Rechtsschutzes des
Einzelnen auf Gemeinschaftsebene. In Deutschland sind
zwar die in den bereits erwähnten Urteilen Zuckerfabrik
und Atlanta aufgestellten Voraussetzungen für einen
vorläufigen Rechtsschutz als eine Einschränkung des
nach nationalem Recht verfügbaren Rechtsschutzes
empfunden worden. Es sollte aber nicht verkannt werden,
daß die Zuständigkeit nationaler Richter zur Aussetzung
der Vollziehung eines Gemeinschaftsrechtsaktes eine
Ausnahme zum im Urteil Foto-Frost festgestellten Monopol
des Gerichtshofes für die Kontrolle der Gültigkeit von
Handlungen der Gemeinschaftsorgane darstellt.
Noch deutlicher wird die Einschränkung
der nationalen Verfahrensautonomie in denjenigen
außerordentlichen Situationen, in denen die
Klagebefugnis vor nationalen Gerichten entscheidend vom
Gemeinschaftsrecht abhängt.
Dazu möchte ich auf zwei Urteile
eingehen, die im Ergebnis auf eine Anerkennung bzw. einen
Ausschluß des Rechtsweges vor nationalen Gerichten im
Hinblick auf die Anwendung des Gemeinschaftsrechts
hinauslaufen.
In der Rechtssache Oleificio Borelli
hatte der Gerichtshof zur richterlichen Kontrolle von
Verwaltungsentscheidungen nationaler und
Gemeinschaftsorgane auf dem Gebiet der gemeinsamen
Agrarpolitik Stellung zu nehmen. Dieser Politikbereich
ist durch ein enges Zusammenwirken nationaler und
Gemeinschaftsbehörden gekennzeichnet. Im Interesse der
Rechtssicherheit muß daher feststehen, welche Rechtsakte
vor welchen gerichtlichen nationalen oder europäischen
Instanzen anfechtbar sind.
In seinem Urteil vom 3.12.1992 ordnete
der Gerichtshof die gerichtliche Kontrolle aller durch
die nationalen Behörden zu treffenden vorbereitenden
Maßnahmen, die allerdings die gemeinschaftliche
Beschlußinstanz binden, den innerstaatlichen Gerichten
zu und lehnte eine Kontrolle dieser Rechtsakte durch die
Gemeinschaftsgerichte als unzulässig ab.
Andererseits folgerte der Gerichtshof
daraus, daß es Sache der nationalen Gerichte ist, über
die Rechtmäßigkeit der innerstaatlichen Verwaltungsakte
zu entscheiden, wobei sie dieselben Prüfungsmaßstäbe
wie bei endgültigen Entscheidungen anzuwenden haben, die
von der zuständigen nationalen Behörde erlassen werden.
Der Gerichtshof betonte, daß eine
verwaltungsgerichtliche Klage somit zulässig ist,
"selbst wenn die innerstaatlichen
Verfahrensvorschriften dies in einem solchen Fall nicht
vorsehen." Diese Aussage untermauerte der
Gerichtshof mit einem Verweis auf die bereits erwähnten
Urteile Heylens und Johnston.
Umgekehrt kam der Gerichtshof im Urteil
TWD vom 9.3.1994 zu einem Ergebnis, das auf einen
Rechtswegausschluß auf nationaler Ebene
hinausläuft.
Unter Hinweis auf den Grundsatz der
Rechtssicherheit betonte der Gerichtshof, daß der durch
eine Beihilfeentscheidung unmittelbar Betroffene, wie der
Empfänger der Subvention, die Rechtswidrigkeit der
Kommissionsentscheidung dann nicht mehr vor den
nationalen Gerichten geltend machen kann, wenn er die
Ausschlußfrist für die Anfechtung dieses
Gemeinschaftsrechtsaktes hat verstreichen lassen.
Man kann diese Feststellung auch unter
dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs sehen, da der
Gerichtshof ausdrücklich auf die andernfalls mögliche
Umgehung der gemeinschaftsrechtlichen Klagefrist Bezug
nahm.
Schlußbetrachtungen
Zusammenfassend kann festgestellt
werden, daß die vielfältigen Schranken der
Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten letztlich auf den
doppelten Vorbehalt zurückzuführen sind, der in der
Rechtsprechung Rewe und San Giorgio seinen Ausdruck
gefunden hat. Somit endet die Verfahrensautonomie dort,
wo die Anwendung von nationalen Verfahrensregeln sich in
diskriminierender Weise auf das Gemeinschaftsrecht
auswirkt oder aber dessen Effektivität in Frage
stellt.
Der Grundsatz der interinstitutionellen
und Verfahrensautonomie ist ein Ausdruck der dezentralen
Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Er geht weit über
reine verfahrenstechnische Fragen hinaus; dies gilt
entsprechend für seine Schranken.
Das Beispiel des Vertrauensschutzes
erhellt dies in besonders eindrucksvoller Weise. Dort wie
in vielen anderen Rechtsbereichen sind Verfahrens- und
materielles Recht eng verzahnt und oft nur schwer
auseinanderzuhalten.
Die weitgehenden Schranken der
institutionellen und Verfahrensautonomie der
Mitgliedstaaten fügen sich im übrigen in die
Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts unmittelbare
Wirkung, Vorrang, Haftung der Mitgliedstaaten für
Rechtsverletzungen ein.
Das Simmenthal-Urteil vom 9.3.1978, das
den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts
entscheidend ausgestaltet hat, verdeutlicht ebenfalls die
Schranken der institutionellen und Verfahrensautonomie
der Mitgliedstaaten; das Urteil gibt dem nationalen
Richter auf, ein innerstaatliches Gesetz, das mit
Gemeinschaftsrecht kollidiert, unangewendet zu lassen,
ohne die vorgeschriebenen innerstaatlichen Verfahren zu
beachten, und zwar auch dann, wenn diese Verfahren ihre
Grundlage in der nationalen Verfassung haben.
Eine solche Verpflichtung des
nationalen Richters wird damit begründet, daß er
gehalten ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt
anzuwenden und die Rechte, die diese Rechtsordnung dem
Einzelnen verleiht, zu schützen. Dies verdeutlicht, daß
die Schranken der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten
- wie die vorerwähnten Grundprinzipien des
Gemeinschaftsrechts - ihre Basis in dem Erfordernis des
effektiven Rechtsschutzes finden.
Zwischen nationalem Verfahrensrecht und
materiellem Gemeinschaftsrecht hat sich, insbesondere
aufgrund der Rechtsprechung des Gerichtshofes, eine
Wechselwirkung entwickelt, die in einem jeden Fall eine
Abwägung zwischen dem Grundsatz der
verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten und
den beiden im Urteil San Giorgio niedergelegten
Mindestanforderungen (Nichtdiskriminierung und
Effektivität) des Gemeinschaftsrechts bedingt.
Die Schranken der Verfahrensautonomie
der Mitgliedstaaten zeigen die tiefe Verzahnung von
Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, mit anderen
Worten: eine wechselseitige Durchdringung, die eine
Intensität ohne Parallele erreicht hat.
Ich bin überzeugt - und dies soll
meine abschließende Bemerkung sein - daß eine
dualistische Betrachtung des Verhältnisses beider
Rechtsordnungen dieser tiefen Verzahnung nicht gerecht
wird.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
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