![]() S a a r b r ü c k e r B i b l i o t h e k (http://www.jura.uni-sb.de/projekte/Bibliothek) | Erstveröffentlichung: Opuscula honoraria für Egon Müller, Hrsg: B. Luxenburger / M. Birkenheier Verlag Alma Mater, 2003, S. 117 - 145 |
Manfred Birkenheier
VOB/B 2002 und neues Schuldrecht -
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I. Allgemeines zur Reform des Schuldrechts durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts und zur Anpassung der VOB/B
Die zum 01.01.2002 auf Grund des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts(1) in Kraft getretene Änderung zahlreicher Vorschriften des BGB geht in weiten Teilen zurück auf die Anforderungen, die das europäische Recht an das nationale Recht stellte. Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie(2) vom 25.05.1999 war für den deutschen Gesetzgeber der Anlass, wesentliche Teile des Kaufrechts, insbesondere das Gewährleistungsrecht, zu ändern. Der Geltungsbereich dieser Richtlinie erstreckt sich auf Kaufverträge über Verbrauchsgüter mit Verbrauchern, wobei nach den Begriffsdefinitionen in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie unter ?Verbraucher" jede natürliche Person zu verstehen ist, die im Rahmen der unter die Richtlinie fallenden Verträge zu einem Zweck handelt, der
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nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet
werden kann. Verbrauchsgüter sind neben Wasser, Gas und Strom
?bewegliche körperliche Gegenstände". Als Kaufverträge im Sinne
der Richtlinie gelten nach Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie auch Verträge
über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender
Verbrauchsgüter.
Diese Umschreibung des Geltungsbereichs der Richtlinie macht deutlich, dass sie in erster Linie auf Kaufverträge im engeren Sinne abzielt. Soweit sie jedoch in dem vorstehend zitierten Abs. 4 ihres Art. 1 auch Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender Verbrauchsgüter in den von ihr verwendeten Begriff des Kaufvertrages einbezieht, dehnt sie den Begriff des Kaufvertrages auf Sachverhalte aus, die nach der begrifflichen Abgrenzung der Vertragstypen des BGB dem Werkvertragsrecht unterliegen können. Daher war es konsequent, dass sich der deutsche Gesetzgeber im Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts nicht auf Änderungen des Kaufrechts beschränkt, sondern auch das Werkvertragsrecht einer Überarbeitung unterzogen hat, wobei die Absicht verfolgt wurde, die Rechtsfolgen von Leistungsstörungen bei diesen Vertragstypen zu vereinheitlichen(3) .
Allerdings erstreckt sich der Anwendungsbereich des Werkvertragsrechts in der Praxis auf Verträge höchst unterschiedlicher Ausgestaltung und Leistungsbilder. Zwischen einem Vertrag über die Herstellung, Lieferung und Montage eines Einbauschranks und einem Vertrag über Lieferung und Montage eines Großbauwerks (Kläranlage, Kraftwerk) liegen Welten. Gerade an Verträgen über Bauwerke sind nicht selten keine Verbraucher beteiligt.
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Es ist daher nicht ohne weiteres einsichtig, dass eine gesetzliche
Regelung über Mängelhaftung, die eine Richtlinie über Kaufverträge
umsetzen will, die mit Verbrauchern über Verbrauchsgüter
(? bewegliche körperliche Gegenstände") geschlossen werden,
gleichzeitig geeignet sein soll, einen angemessenen Ausgleich
zwischen den Parteien eines Werkvertrages zu schaffen, die weder
Verbraucher sind noch Verbrauchsgüter zum Gegenstand ihrer
Vereinbarungen gemacht haben, wie dies gerade bei Verträgen
über Bauwerke, also im Bereich des privaten Baurechts der
Fall ist. In der Literatur werden denn auch verschiedene Regelungen
des neuen Mängelhaftungsrechts der §§ 634 ff. BGB n. F.
als nicht geeignet für einen angemessenen Interessenausgleich
zwischen den Vertragspartnern im Bereich des privaten Baurechts
angesehen.
Umstritten ist die Bewertung der Tragweite der Änderungen, die das Werkvertragsrecht des BGB durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts erfahren hat. Während ein Teil der Literatur die Änderungen, insbesondere was den neu formulierten Begriff des Sachmangels bzw. der Mangelfreiheit in § 633 Abs. 2 BGB n. F. und die Regelung der Mängelansprüche des Bestellers in § 634 ff. BGB n. F. betrifft, als eher geringfügig und unproblematisch einstuft(4) , wird mit zunehmender Geltungsdauer und vertiefter Überprüfung des neuen Rechts von anderen Literaturstimmen speziell des privaten Baurechts verstärkt auf Unterschiede gegenüber dem bisherigen Recht, Auslegungsprobleme, unausgewogene Ergebnisse sowie Unklarheiten des neuen Rechts hingewiesen.
Im Hinblick auf die Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen über den Werkvertrag durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts, aber auch im Hinblick auf das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen(5) hat der Deutsche Vergabe-und
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Vertragsausschuss (DVA) mit Beschlüssen vom 16./17.04.2002
zahlreiche Änderungen in der VOB/B vorgenommen. Die daraus
resultierende Neufassung wird in der Literatur und ihr folgend
auch im vorliegenden Beitrag als VOB/B 2002(6) bezeichnet.
Hinsichtlich des Inhalts, der Analyse und kritischen Würdigung
aller darin gegenüber der Vorgängerversion, der VOB/B 2000,
enthaltenen Änderungen kann an dieser Stelle nur auf die bereits
erschienenen ausführlichen Darstellungen(7) verwiesen werden, da
der Umfang den Rahmen des vorliegenden Beitrags überschreiten
würde. Erwähnt sei nur, dass die Änderungen in erheblichem
Umfang auch den bisher mit ?Gewährleistung" überschriebenen
§ 13 VOB/B betreffen. Dessen Wortlaut wurde demjenigen der
neuen BGB-Bestimmungen angepasst. Die Überschrift wurde in
?Mängelansprüche" geändert, da das BGB den Begriff ?Gewährleistung"
nicht mehr verwendet. Eine der wichtigsten Änderungen
ist dabei die Verlängerung der in § 13 Nr. 4 VOB/B geregelten
Verjährungsfristen. Ist für Mängelansprüche im Vertrag keine
Verjährungsfrist vereinbart, so beträgt sie jetzt für Bauwerke
vier Jahre statt bisher zwei Jahre, für Arbeiten an einem Grundstück zwei Jahre statt bisher ein Jahr(8) .
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II. Erneuerung des Meinungsstreits um die Privilegierung der VOB/B
Die Änderungen des BGB durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts haben jedoch nicht nur zu inhaltlichem Anpassungsbedarf in der VOB/B geführt, dem der DVA mit der VOB 2002 gerecht werden wollte, sondern weit darüber hinaus in der Literatur die Grundsatzdiskussion über die Privilegierung der VOB/B, d. h. über deren Freistellung von der Inhaltskontrolle anhand der gesetzlichen Vorschriften über die Kontrolle der Rechtswirksamkeit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen wieder aufleben lassen. Dies beruht auf der Einbindung der Bestimmungen des bisherigen AGB-Gesetzes in das BGB sowie der unstreitigen(9) Rechtsnatur der VOB als Allgemeine Geschäftsbedingungen. Es geht dabei um die Frage, ob die VOB/B auch nach dem In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des BGH in ihrer Gesamtheit ein privilegiertes Regelwerk darstellt, sofern sie ?als Ganzes", also in ihrer Gesamtheit, zum Vertragsinhalt gemacht worden ist .
Während ein Teil der Literatur im Rahmen dieser Diskussion bereits das Sterbeglöcklein für die VOB/B läuten hört(10) und ihr ein ?Massaker" voraussagt(11) , halten andere Autoren dagegen,
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dass sich durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts
an der Rechtslage nichts geändert habe(12) .
Von der aktuellen Diskussion zu trennen und nicht Gegenstand
der folgenden Ausführungen ist die bereits auf der Grundlage
der früheren Rechtslage geführte Grundsatzdiskussion(13) über die
Berechtigung der Privilegierung der VOB/B und die entsprechende
Rechtsprechung des BGH.
Worum geht es bei der Streitfrage um die Privilegierung der
VOB im Einzelnen?
III. Die Problematik der Privilegierung
Allgemeine Geschäftsbedingungen unterlagen bis Ende 2001 der Inhaltskontrolle durch das AGB-Gesetz, d. h. ihre Rechtswirksamkeit hing davon ab, ob sie den Anforderungen standhielten, die die Vorschriften des AGB-Gesetzes an den Inhalt von Allgemeinen Geschäftsbedingungen stellten. Dies hätte vom Grundsatz her auch für die einzelnen Bestimmungen der VOB/B gelten müssen, wenn nicht der BGH das Gegenteil entschieden hätte: Nach seiner Rechtsprechung sind die einzelnen Bestimmungen der VOB/B von der Rechtmäßigkeitskontrolle nach den Maßstäben des AGB-Gesetzes befreit, in dieser Hinsicht also ?privilegiert" unter der Voraussetzung, dass die VOB/B in ihrer Gesamtheit, ?als Ganzes" ohne substantielle Eingriffe in ihr Gesamtgefüge zum Inhalt des jeweiligen Vertrages gemacht wurde.
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In seiner grundlegenden Entscheidung vom 16.12.1982(14) , in der
es um die Frage ging, ob die Regelung des § 16 Nr. 3 VOB/B über
die vorbehaltlose Annahme der Schlusszahlung nach § 9 AGBG
wegen unangemessener Benachteiligung des Auftragnehmers
unwirksam sei, erklärte der BGH eine isolierte Betrachtung der
VOB-Vorschrift für verfehlt mit der Begründung, die VOB/B sei
anders als der Normalfall von Allgemeinen Geschäftsbedingungen
kein Regelwerk, das den Vorteil nur einer der beiden Vertragspartner
verfolge. Bei ihrer Ausarbeitung seien Interessengruppen
der Besteller wie der Unternehmer beteiligt gewesen, sie
enthalte einen auf die Besonderheiten des Bauvertragsrechts abgestimmten,
?im ganzen einigermaßen ausgewogenen Ausgleich
der beteiligten Interessen". Auf der gleichen Erwägung beruhe es
ausweislich der damaligen Begründung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung zum AGB-Gesetz, dass nach § 23 Nr. 5 AGBG
die §§ 10 Nr. 5, 11 Nr. 10 f. nicht auf Leistungen anzuwenden
seien, für die die VOB/B Vertragsgrundlage sei. Würden einzelne,
die Interessen einer Vertragsseite bevorzugende Bestimmungen
der VOB/B im Rahmen einer Einzelkontrolle für unwirksam erklärt, so würde das mit der Inhaltskontrolle nach dem AGBG
verfolgte Ziel verfehlt, weil dadurch der von der VOB/B im Zusammenwirken
sämtlicher Vorschriften erstrebte billige Ausgleich
der Interessen gestört würde. Das Normgefüge der VOB/B sei
daher als Ganzes zu prüfen. Als solches halte es den Maßstäben
von § 9 AGBG stand, vorausgesetzt, der Verwender habe die
VOB/B ?ohne ins Gewicht fallende Einschränkung übernommen",
so dass sie im Kern Vertragsgrundlage geblieben und der von ihr
verwirklichte Interessenausgleich nicht wesentlich beeinträchtigt
sei.(15)
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Diese relativ ausführliche Wiedergabe der tragenden Argumentation
der BGH-Rechtsprechung ist zum besseren Verständnis des
heutigen Meinungsstreits über den Fortbestand der Privilegierung
der VOB/B und zur Gewichtung der dabei vorgetragenen Argumente
erforderlich.
IV. Der Meinungsstand nach dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts
Das AGB-Gesetz wurde durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts aufgehoben, die in ihm enthaltenen Regelungen über die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in einen Vertrag und über die Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen wurden in den allgemeinen Teil des Rechts der Schuldverhältnisse, und zwar in die §§ 305 ff. BGB, integriert. Die VOB/B wird dabei nur in zwei Vorschriften genannt, nämlich in § 308 Nr. 5 und § 309 Nr. 8 b ff) BGB, die inhaltlich dem früheren § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG entsprechen. Diese Vorschriften betreffen zum einen fingierte Erklärungen, zum anderen die Erleichterung
der Verjährung von Ansprüchen, insbesondere Mängelansprüchen, durch Klauseln über die Verkürzung der Verjährungsfristen. Sie gelten nicht für Verträge, ?in die Teil B der Verdingungsordnung für Bauleistungen insgesamt einbezogen ist".
Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber in den §§ 307 ff. BGB n. F. , also in den Vorschriften über die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, nur an zwei Stellen bestimmte Regelungskomplexe der VOB/B ausdrücklich angesprochen und von der Inhaltskontrolle und dem Verdikt der Unwirksamkeit ausgenommen, also hierfür die Privilegierung angeordnet hat, wird von den Verfechtern des Wegfalls der Privilegierung der VOB/B gefolgert, dass es nach dem ?klaren Wortlaut der Norm
Verursacher und die Art und Weise des Eingriffs in den Kernbereich kommt es nach h. M. ebenso wenig an wie darauf, ob die den Eingriff in den Kernbereich enthaltenden Regelungen ihrerseits der Inhaltskontrolle standhalten, vgl. Tomic, BauR 2001, 14, 16, 17 m. w. N. und kritischen Einwänden hierzu.
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als auch den Gesetzen der Logik"(16) zu einer Beschränkung der
Privilegierung gekommen sei. Auf Grund eines Umkehrschlusses
stehe fest, dass die übrigen Klauseln der VOB/B, die nicht unter
§ 308 Nr. 5 und § 309 Nr. 8 b ff) BGB n. F. fallen, mangels einer
entsprechenden ausdrücklichen gesetzlichen Regelung nicht mehr
privilegiert seien.(17) Zu diesem Schluss müsse man insbesondere
deshalb kommen, weil dem Gesetzgeber des Gesetzes zur Modernisierung
des Schuldrechts die Rechtssprechung des BGH zur
Privilegierung der VOB/B bekannt gewesen sei und es deshalb
nahe gelegen hätte, diese Rechtsprechung in den Abschnitt des
BGB über Allgemeine Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff.) zu integrieren
durch eine ausdrückliche Regelung dahingehend, dass die
VOB/B in vollem Umfang von der Inhaltskontrolle ausgenommen
sei, sofern sie ohne ins Gewicht fallende Einschränkung Vertragsinhalt
geworden sei.(18) Zwar sei der Begründung des Gesetzentwurfs
zum Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts zu
entnehmen, dass die Privilegierungs-Rechtsprechung des BGH
ohne inhaltliche Änderung im Gesetzeswortlaut ihre Entsprechung
habe finden sollen.(19) Diese Absicht des Gesetzgebers komme jedoch nicht im Gesetzeswortlaut zum Tragen, weil eine (teilweise)
Privilegierung der VOB/B ? wie vorstehend beschrieben ?
nur noch für zwei bestimmte Regelungsbereiche, jedoch nicht für
alle Bestimmungen der VOB/B vorgesehen sei. Von der Rechtsprechung
des BGH weiche der neue Gesetzeswortlaut auch bei
der Umschreibung der Voraussetzung der Privilegierung der beiden
bestimmten Regelungsbereiche ab, weil dort verlangt werde,
dass die VOB/B in den Vertrag ?insgesamt einbezogen" sein
müsse. Dies sei eine Verschärfung der Voraussetzungen(20) ; denn
nach der Rechtsprechung des BGH brauche die VOB/B nur ?ohne
ins Gewicht fallende Einschränkung übernommen" zu werden,
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damit sie im Kern Vertragsgrundlage und der von ihr verwirklichte
Interessenausgleich nicht wesentlich beeinträchtigt sei. Aus
den in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommenen
Vorstellungen oder Absichten des Gesetzgebers könne der Fortbestand
der Privilegierung aller Regelungen der VOB/B nicht
hergeleitet werden, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung
maßgebend nur der in dieser zum Ausdruck kommende
objektivierte Wille des Gesetzgebers sei, so wie er sich aus dem
Wortlaut der Norm und dem Sinnzusammenhang ergebe, in den
sie hineingestellt sei. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift
komme für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie
die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen
Auslegung bestätige oder anderweitig nicht ausräumbare
Zweifel behebe.(21) Hinzu komme ohnehin, dass die Begründung
des Regierungsentwurfs zum Gesetz zur Modernisierung des
Schuldrechts nicht die gesamte Rechtsprechung des BGH zur
Privilegierung der VOB/B erwähne, sondern nur solche Entscheidungen,
in denen der BGH restriktiv lediglich die isolierte Vereinbarung des § 13 Nr. 4 VOB/B als Verstoß gegen § 9 AGBG
beurteilt habe. Gerade die ?extensive" Rechtsprechung des BGH, beginnend mit der oben dargestellten Leitentscheidung vom 16.12.1982, werde in der Begründung nicht erwähnt(22) .
Wäre diese Auffassung zutreffend, würde sie bedeuten, dass alle nicht in § 308 Nr. 5 und § 309 Nr. 8 b ff) BGB n. F. angesprochenen Bestimmungen der VOB/B der inhaltlichen Einzelkontrolle nach §§ 307 ff. BGB n. F. unterzogen werden müssten und in zahlreichen Fällen den gesetzlichen Anforderungen nicht standhalten würden(23) , wie dies in der Rechtsprechung für den Fall, dass die VOB/B nicht ?als Ganzes" vereinbart war, bereits entschieden wurde(24) .
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Dieser Argumentation hält die Gegenmeinung, die den Fortbestand
der Privilegierung der VOB/B auch unter der Geltung des
neuen Schuldrechts bejaht, nachdrücklich die Begründung des
Entwurfs des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts entgegen,
in der ausdrücklich erklärt werde, dass die Rechtsprechung
zur Privilegierung ?ohne inhaltliche Änderungen" im Gesetzeswortlaut
ihre Entsprechung finden solle.(25) Die Entwurfsbegründung
enthalte die authentische Wiedergabe der Vorstellungen und
Absichten des Gesetzgebers(26) . Hätte der Gesetzgeber eine Abkehr
von der ihm bekannten Rechtsprechung zur Privilegierung der
VOB/B vollziehen wollen, hätte er von der Übernahme des Inhalts
von § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG in das BGB abgesehen und dies
auch in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebracht(27) .
Hinzu komme, dass die BGH-Rechtsprechung zur Privilegierung der VOB/B ausweislich der grundlegenden Entscheidung vom 16.12.1982 nicht auf § 23 Abs. 2 Nr. 5 ABGB beruhe, so dass von einer von dieser Vorschrift ausgehenden Ausweitung der Privilegierung, wie sie die Gegenmeinung unterstelle, nicht gesprochen werden könne. Der BGH habe nämlich die Privilegierung unabhängig von der gesetzlichen Regelung in § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG aus der besonderen Eigenschaft der VOB/B als einem in sich ausgewogenen Regelwerk und damit deren wesentlichem Unterschied gegenüber sonstigen Allgemeinen Geschäftsbedingungen hergeleitet.(28) Aus dem veränderten Standort der ausdrücklichen Privilegierungsregelung ? jetzt § 308 Nr. 5 und § 309 Nr. 8 b ff) BGB n. F. , früher § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG ? könne ohnehin nichts im Sinne einer sachlichen Einschränkung der Privilegierung hergeleitet werden, da der Gesetzeswortlaut für eine
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inhaltliche Änderung gegenüber der früheren gesetzlichen Regelung
nichts hergebe(29) .
Schließlich wird der Fortbestand der Privilegierung der VOB/B auch auf den Gesichtspunkt der ?Einheitlichkeit der Rechtsordnung" gestützt: Bei öffentlichen Ausschreibungen oberhalb der EU-Schwellenwerte sehe § 97 Abs. 6 GWB(30) in Verbindung mit §§ 7 ff. der Vergabeverordnung (VgV) zwingend die Ausschreibung und Vergabe der Bauleistung nach der VOB/ A vor. Über § 10 Abs. 2 VOB/ A seien die Auftraggeber verpflichtet, in den von ihnen abzuschließenden Bauverträgen die VOB/B zum Vertragsinhalt zu machen. Würde die VOB/B im Hinblick auf die Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB n. F. weitgehend aus unwirksamen Bestimmungen bestehen, würde dies bedeuten, dass öffentliche Auftraggeber im Geltungsbereich der Vergabeverordnung kraft Gesetzes zur Vereinbarung unwirksamer Vertragsbestimmungen verpflichtet würden. Dieser Widerspruch zur Einheit der Rechtsordnung könne nur aufgelöst werden, wenn man vom Fortbestand der Privilegierung der VOB/B auch nach In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts ausgehe(31) . Die Privilegierung stehe allerdings unter dem Vorbehalt, dass die VOB/B auch weiterhin ein ausgewogenes Klauselwerk im Sinne der Rechtsprechung des BGH darstelle. Ob diese Prämisse weiterhin zutreffe, sei jederzeit von der Rechtsprechung zu überprüfen(32).
Soweit bereits unter der Geltung des früheren Rechts Bedenken
gegen die Privilegierung der VOB/B im Hinblick auf europarechtliche
Vorschriften, nämlich im Hinblick auf die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 05.04.1993 über missbräuchliche Klauseln
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in Verbraucherverträgen(33) geäußert(34) worden seien, sei entgegenzuhalten,
dass Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie durchaus erlaube,
bei der Beurteilung der Frage der Missbräuchlichkeit einer
Klausel eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen und dabei auch
weitere Klauseln des Bedingungswerkes zu berücksichtigen(35) , so
dass für die Frage der Privilegierung nach europäischem Recht
nichts anderes gelte als nach der in der Rechtsprechung des BGH
festgestellten Rechtslage nach deutschem Recht(36) . Daher liege bei
Vereinbarung der VOB/B ?als Ganzes" auch nach der Richtlinie
keine ?ungebührliche" Benachteiligung des Verbrauchers vor. Erst
recht gelte dies für § 13 Nr. 4 VOB/B in der Fassung der VOB/B
2002, da dort die Gewährleistungsfrist für Bauleistungen verdoppelt,
nämlich von zwei auf vier Jahre verlängert worden und damit
der gesetzlichen Frist bis auf ein Jahr angenähert ist. Auch im
übrigen enthalte die VOB/B 2002 nur Verbesserungen zugunsten
von Verbrauchern. Damit sei den europarechtlichen Einwänden
der Boden entzogen(37).
V. Stellungnahme zu den in der Literatur vertretenen Meinungen
Unterzieht man die beiden kontroversen Auffassungen zur Frage des Fortbestands der Privilegierung der VOB/B einer kritischen Betrachtung, muss man zunächst mit Weyer und Joussen feststellen, dass in der Tat die Befürworter des Wegfalls der
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Privilegierung hinsichtlich der einschlägigen Rechtsprechung des
BGH von einer unzutreffenden Prämisse ausgehen: Denn nach
der oben ausführlich wiedergegebenen Grundsatzentscheidung
des BGH vom 16.12.1982 ist es eindeutig, dass der BGH seine
Rechtsprechung nicht auf die frühere Regelung des § 23 Abs. 2
Nr. 5 AGBG gestützt bzw. hieraus abgeleitet hat, sondern den
wesentlichen Unterschied der VOB/B gegenüber sonstigen Allgemeinen
Geschäftsbedingungen für ausschlaggebend erklärt hat,
nämlich ihre besondere Eigenschaft, ein auf das Bauvertragsrecht
abgestimmtes ausgewogenes Regelwerk zu sein, das auf Grund
der Mitwirkung der beteiligten Interessengruppen zu einem ?im
Ganzen" angemessenen Ausgleich der Interessen der Vertragspartner
führe. § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG wird in der Grundsatzentscheidung
des BGH zwar erwähnt, jedoch nicht als maßgebliche
Stütze der Entscheidung; es heißt dort lediglich, es beruhe ?auf
der gleichen Erwägung", dass nach § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG die
§§ 10 Nr. 5, 11 Nr. 10f. AGBG nicht anzuwenden seien auf Leistungen,
für die die VOB/B Vertragsgrundlage sei. § 23 Abs. 2
Nr. 5 AGBG war für den BGH somit nicht Ausgangspunkt und Geltungsgrundlage seiner Privilegierungs-Rechtsprechung, sondern
nur eine gesetzgeberische Bestätigung der eigentlichen Grundlage, die der BGH aus Zielsetzung sowie Sinn und Zweck der Generalklausel des heute inhaltlich unverändert in § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB n. F. fortbestehenden § 9 AGBG abgeleitet hat. Eine ?unangemessene Benachteiligung" des Vertragspartners des Verwenders ?entgegen den Geboten von Treu und Glauben" im Sinne der Generalklausel liegt nach der Entscheidung des BGH in Anbetracht der vorstehend beschriebenen Besonderheiten der VOB/B nicht vor, wenn sie ?als Ganzes" Vertragsinhalt ist. Daher wäre es mit Zielsetzung sowie Sinn und Zweck der Generalklausel nicht vereinbar, die Vorschriften der VOB/B isoliert zu betrachten und einer isolierten Inhaltskontrolle zu unterziehen.
Der BGH kam zu diesem Ergebnis, obwohl schon in § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG ebenso wie jetzt in §§ 308, 309 BGB n. F. lediglich für zwei bestimmte Klauseltypen, nämlich Klauseln im Sinne von § 10 Nr. 5 und § 11 Nr. 10 f AGBG, der Ausschluss ihrer Geltung
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vorgesehen war für den Fall, dass die VOB Vertragsgrundlage
war. Der Wortlaut von § 308 Nr. 5 BGB n. F. stimmt vollständig
mit demjenigen von § 10 Nr. 5 AGBG überein. Bei § 309 Nr. 8 b ff)
BGB n. F. ist zwar nicht der Wortlaut mit demjenigen von § 11 Nr.
10 f AGBG identisch, jedoch der Inhalt: Beiden Vorschriften ist
der Sache nach gemeinsam, dass die Erleichterung der Verjährung
von Mängelansprüchen bei Bauwerken oder Planungs -oder
Überwachungsleistungen hierfür (§ 634 a Abs. 1 Nr. 2 BGB n. F.)
für unwirksam erklärt wird. Dies soll jedoch nicht gelten ?für Verträge, in die Teil B der Verdingungsordnung für Bauleistungen
insgesamt einbezogen ist". Damit regelt dieser Zusatz in den neuen Bestimmungen ebenso wie § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG nichts anderes als den sachlichen Geltungsbereich der beiden genannten Klauselverbote der §§ 308, 309 BGB n. F., d. h. er nimmt die einschlägigen Bestimmungen der VOB/B ebenso wie die Vorgängerregelung des § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG vom Geltungsbereich dieser Klauselverbote aus.
Insoweit hat sich also in der Tat gegenüber der früheren Rechtslage nichts verändert. Die bloße Veränderung des Standorts der gesetzlichen Regelungen, d. h. deren Integration in das BGB, belegt in keiner Weise eine inhaltliche Veränderung, wie Weyer und Joussen zutreffend dargelegt haben. Der Ausgangspunkt für die Beurteilung durch die Rechtsprechung ist ? abgesehen von der inhaltlich unerheblichen Änderung des Standorts der gesetzlichen Regelung ? derselbe geblieben. Von daher ist kein Ansatzpunkt für die Schlussfolgerung ersichtlich, die Privilegierungs-Rechtsprechung des BGH könne jetzt nicht mehr gelten. Da sowohl Zielsetzung wie Sinn und Zweck der Generalklausel des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB n. F. dieselben sind wie diejenigen von § 9 AGBG, gelten die Erwägungen, die den BGH zu seiner Grundsatzentscheidung vom 16.12.1082 veranlasst haben, unverändert weiter.
Die Vertreter des Wegfalls der Privilegierung der VOB/B müssen deshalb zusätzliche Argumente bemühen: Ausgehend von der Erwägung, dass der Gesetzgeber die Privilegierungs-Rechtsprechung des BGH gekannt habe, behaupten sie, der Gesetzgeber
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habe im Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts eine Beschränkung
der Privilegierung der VOB/B vorgenommen, da er
nur die Klauseln über verkürzte Verjährung von Mängelansprüchen
und fingierte Erklärungen ausdrücklich im Gesetz als
privilegiert genannt habe. Daraus ergebe sich im Umkehrschluss,
dass alle übrigen Bestimmungen der VOB/B von der Privilegierung
ausgenommen sein sollten.
Die Vertreter dieser Auffassung sind sich offenbar nicht bewusst, dass sie mit dieser Argumentation genau dasselbe tun, was sie denjenigen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Gesetzesauslegung als unzulässig vorhalten(38) , die den Fortbestand der Privilegierung der VOB/B im Hinblick auf die Gesetzesbegründung verteidigen. Denn sie stellen entscheidend auf die Kenntnis des Gesetzgebers vom Stand der Rechtsprechung und damit auf die ?subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder" ab. Von daher unterstellen sie die Intention des Gesetzgebers, die Privilegierung einschränken zu wollen, weil angesichts der Kenntnis des Gesetzgebers von der einschlägigen Rechtsprechung zu erwarten oder gar zu fordern gewesen wäre, dass er ausdrücklich die Privilegierung aller Vorschriften der VOB/B im Gesetzeswortlaut hätte vorsehen müssen, wenn er diese Rechtsprechung zum Inhalt des Gesetzes hätte machen wollen.
Die Argumentation mit dem Umkehrschluss greift jedoch zu kurz, weil sie die Zusammenhänge allzu sehr vereinfacht. Der Umkehrschluss ist keineswegs zwingend. Denn bei der Integration des AGBG in das BGB wurde ? wie oben aufgezeigt ? hinsichtlich der Struktur und des Inhalts der hier relevanten Vorschriften nichts geändert. Dies lässt sich ? unabhängig von der Kenntnis von den konkreten Vorstellungen des Gesetzgebers -ohne weiteres auch in dem Sinne interpretieren, dass der Sache nach nichts
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geändert werden sollte(39). Dies gilt aber auch dann, wenn man -
unabhängig von der Gesetzesbegründung - davon ausgeht, dass
der Gesetzgeber die einschlägige Privilegierungs-Rechtsprechung
des BGH gekannt hat. Gerade weil der BGH diese Rechtsprechung
? wie oben aufgezeigt ? unabhängig von § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG
entwickelt hat, konnte der Gesetzgeber ohne weiteres davon ausgehen,
dass sich an dieser Rechtsprechung nichts ändern werde,
wenn er bei der Integration des AGBG in das BGB sich darauf
beschränkte, den Inhalt von § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG in das BGB
zu übernehmen. Einer ausdrücklichen Regelung dahingehend,
dass sämtliche Bestimmungen der VOB/B privilegiert sein sollten,
wenn die VOB/B insgesamt in den Vertrag einbezogen wird,
bedurfte es von daher nicht.
Für den Fortbestand der Privilegierung der VOB/B spricht darüber hinaus auch folgende Überlegung: In den §§ 308 Nr. 5 und 309 Nr. 8 b ff) BGB n. F. hat der Gesetzgeber die Einbeziehung der VOB/B insgesamt in den Vertrag als Rechtfertigung dafür angesehen, einzelne Bestimmungen der VOB/B, die bei isolierter Betrachtung wegen Verstoßes gegen die gesetzlichen Klauselverbote unwirksam wären, nämlich die Bestimmungen über fingierte Erklärungen und die Verkürzung der Verjährungsfristen für Mängelansprüche, von den gesetzlichen Klauselverboten auszunehmen.
Die VOB/B in ihrer Gesamtheit als geschlossenes Regelwerk wird damit zum Geltungsgrund, d. h. zur Rechtgrundlage für die
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Wirksamkeit einzelner ihrer Bestimmungen erhoben und als solche
anerkannt, wenn sie in einen Vertrag einbezogen wird. Dies
wäre aber widersinnig, wenn die VOB/B nicht in ihrer Gesamtheit
privilegiert wäre, weil dann der Gesetzgeber als Geltungsgrund
einzelner VOB/B-Bestimmungen verlangen würde, dass
mit der VOB/B auch andere Klauseln mitvereinbart werden
müssten, die selbst nicht privilegiert wären, der AGB-Inhaltskontrolle
unterlägen und ihr nicht standhalten(40) . Weder das
AGBG noch jetzt das BGB 2002 enthalten im übrigen irgendeinen
Hinweis darauf, dass der VOB/B die vorstehend beschriebene
Funktion bzw. rechtliche Wirkung nur im Verhältnis zu einem
Teil ihrer Vorschriften zukommen solle, im Verhältnis zu dem
anderen Teil ihrer Vorschriften jedoch nicht. Das Gesetz gibt auch
keinen Hinweis darauf, dass es graduelle Abstufungen des Ausmaßes
oder des Schweregrades der Unwirksamkeit zwischen den
Bestimmungen der VOB/B geben könnte, die eine unterschiedliche
rechtliche Wirkung der Vereinbarung der VOB/B ?als Ganzes"
im Verhältnis zu ihren einzelnen Bestimmungen begründen
könnten. Dies spricht dafür, dass der Vereinbarung der VOB/B ?als Ganzes" die geltungserhaltende Wirkung gegenüber den
gesetzlichen Vorschriften über die Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Verhältnis zu jeder einzelnen Bestimmung der VOB/B zukommt, die bei isolierter Betrachtung gemessen an den §§ 307 ff. BGB n. F. unwirksam wäre.
In diesem Sinne kann der für die Gesetzesauslegung maßgebliche
?objektive Wille des Gesetzgebers", wie er sich aus Wortlaut
und Sinnzusammenhang der gesetzlichen Regelung ergibt(41) , mit
größerer Plausibilität festgestellt werden als nach der Auffassung
der Vertreter des Wegfalls der Privilegierung. Selbst wenn jedoch
beide Auslegungsergebnisse gleichwertig vertretbar nebeneinander
stünden, käme der Entstehungsgeschichte des Gesetzes bei
der Klärung der Richtigkeit der einen oder der anderen Auslegung
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und bei der Behebung entsprechender Zweifel(42) ausschlaggebende
Bedeutung zu. Denn dass die Gesetzesbegründung für
den Willen des Gesetzgebers spricht, die Privilegierung der VOB/
B im Sinne der Rechtsprechung fortbestehen lassen zu wollen, ist
eindeutig(43) .
Eine andere Frage ist es, ob sich die Voraussetzungen der Privilegierung der VOB/B dadurch geändert haben, dass nach § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG die VOB ?Vertragsgrundlage" sein musste, während der Gesetzeswortlaut jetzt verlangt, sie müsse in den Vertrag ?insgesamt einbezogen sein". In dieser geänderten Formulierung sieht Preussner(44) eine Verschärfung der Anforderungen an die Privilegierung. Andere Autoren haben sich zu dieser Frage, soweit ersichtlich, bisher nicht ausdrücklich geäußert(45) . Die Formulierung ?insgesamt einbezogen" könnte in der Tat eine Verschärfung der Anforderungen an die Privilegierung bedeuten, wenn man berücksichtigt, dass der BGH in seiner Grundsatzentscheidung lediglich gefordert hat, die VOB/B müsse ?ohne ins Gewicht fallende Einschränkung übernommen" sein, sie müsse ?im Kern Vertragsgrundlage geblieben und der von ihr verwirklichte Interessenausgleich nicht wesentlich beeinträchtigt worden" sein(46) . Dies führte in der Praxis regelmäßig zur Überprüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall noch gegeben waren oder nicht. Allerdings ergibt sich aus der Gesetzesbegründung kein Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber mit der geänderten Formulierung der Praxis die manchmal schwierige Entscheidung ersparen wollte, ob die VOB/B ?ohne ins Gewicht fallende Einschränkung übernommen" wurde oder nicht.
Ohnehin hätte er ihr die Prüfung und Entscheidung dieser Frage mit dem geänderten Wortlaut auch nicht ersparen können:
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Denn selbst dann, wenn es in einem Vertrag heißt, die VOB/B sei
?insgesamt" Vertragsinhalt, macht dies - wie schon bisher - nicht
die zusätzliche Überprüfung entbehrlich, ob nicht andere Klauseln
desselben Vertrages im Widerspruch zu einzelnen wesentlichen
Bestimmungen der VOB/B stehen und diese dadurch außer
Kraft setzen, so dass im Ergebnis die VOB/B nicht mehr ?ohne
ins Gewicht fallende Einschränkung" Vertragsinhalt ist. Die Prüfung
dieser Frage ist also auch nach dem Wortlaut von § 308 Nr.
5 und § 309 Nr. 8 b ff.) BGB n. F. nicht entbehrlich geworden. Dies
spricht mehr dafür, dass sich durch die Formulierung ?insgesamt
einbezogen" auch hinsichtlich der Voraussetzungen der
Privilegierung der VOB/B nichts an der durch die Rechtsprechung
des BGH festgestellten Rechtslage geändert hat.
VI. Statische oder dynamische oder keine Verweisung?
Weiterhin umstritten ist auch nach der Schuldrechtsreform die schon nach früherem Recht heftig diskutierte(47) Streitfrage, ob es sich bei der in § 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG und seinen jetzigen Nachfolgern, den §§ 308 Nr. 5 und 309 Nr. 8 b ff) BGB n. F., enthaltenen Bezugnahme auf die VOB/B um eine statische, eine dynamische oder um überhaupt keine Verweisung handelt. Im Falle einer statischen Verweisung wäre nur diejenige Fassung der VOB/B privilegiert, von deren Inhalt der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes Kenntnis hatte(48) . Dies wäre in Bezug auf das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts die VOB 2000, so dass die VOB 2002 nicht unter die Privilegierung fallen würde.
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Im Falle einer dynamischen Verweisung hingegen wäre die
VOB/B in ihrer jeweiligen Fassung privilegiert, so dass auch nach
der Entscheidung des Gesetzgebers vom DVA beschlossene Änderungen
der VOB/B und somit auch die neueste Fassung von
2002 privilegiert wären. Dagegen werden allerdings verfassungsrechtliche
Bedenken erhoben dahingehend, dass es dem Gesetzgeber
nicht erlaubt sei, von ihm selbst zu treffende Entscheidungen
?durch die Hintertür auf nicht demokratisch legitimierte Gremien
zu übertragen". Nach dem Rechtsstaatsprinzip dürfe der
Bürger nicht der normsetzenden Gewalt Dritter ausgeliefert werden,
die ihm gegenüber weder demokratisch noch mitgliedschaftlich
legitimiert seien. Dies sei jedoch der Fall, wenn nachträglich
von dem nicht demokratisch legitimierten DVA vorgenommene
Änderungen der VOB/B, die dem Gesetzgeber zum Zeitpunkt
seiner Entscheidung unbekannt waren, unter den Schutz der
Privilegierung fallen würden(49) .
Den Streit um statische oder dynamische Verweisung sehen andere Autoren als überflüssig und gegenstandslos an mit der Begründung, diese Alternative bestehe nicht, weil in den in Rede stehenden gesetzlichen Bestimmungen keine Verweisung und insbesondere keine verfassungsrechtlich bedenkliche Verweisung enthalten sei. Denn der Gesetzgeber habe dort keineswegs die ihm zukommende Normsetzungskompetenz einer demokratisch nicht legitimierten Institution wie dem DVA überlassen. Das Gesetz schreibe bei seiner Bezugnahme auf die VOB/B keineswegs vor, dass die jeweilige Fassung der VOB/B durch den DVA für den Vertragspartner eines Bauvertrages Gesetzeskraft erlange. Die Geltung der VOB/B beruhe vielmehr im privatrechtlichen Rechtsverkehr auf der freiwilligen Unterwerfung der Vertragspartner
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unter dieses Regelwerk. Die freiwillige Unterwerfung unter die
VOB/B sei in §§ 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG, 308 Nr. 5 und 309 Nr. 8 b
ff) BGB n. F. lediglich das Tatbestandsmerkmal, an das der Gesetzgeber
die Rechtsfolge der Privilegierung geknüpft habe(50) .
Diese Rechtsfolge stehe unter der Prämisse, dass die VOB/B ?
auch künftig ? ein in sich ausgewogenes Regelwerk darstelle(51) .
Ob diese Prämisse weiterhin erfüllt sei, sei jederzeit von der Rechtsprechung
zu überprüfen(52).
Die letztgenannte Auffassung zieht mit Recht in Zweifel, dass es sich bei der Bezugnahme auf die VOB/B in §§ 23 Abs. 2 Nr. 5 AGBG, 308 Nr. 5 und 309 Nr. 8 b ff) BGB n. F. um eine Verweisung im gesetzestechnischen Sinne handelt. Eine Verweisung liegt dann vor, wenn einer Norm, auf die verwiesen wird, unmittelbare Rechtswirkung und Geltung im Rahmen der verweisenden Norm zugemessen wird. Zwar haben Allgemeine Geschäftsbedingungen ? darum handelt es sich bei der VOB/B ? ?normgleiche Wirkungen, aber doch nur in einem soziologischen Sinne. Rechtlich
entfalten sie ihre Wirkung erst dann, wenn sie durch Vereinbarung der Vertragsparteien zum Vertragsinhalt gemacht worden sind. Insoweit handelt es sich um Regelungsmodelle ohne unmittelbare Verbindlichkeit" 53 . Deshalb bedeutet die Bezugnahme auf die VOB/B in den genannten Vorschriften keine Delegation gesetzgeberischer Kompetenzen auf den DVA als nichtstaatliche Einrichtung. Denn in diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Formulierung und Vereinbarung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ihre Grundlage in der von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Privatautonomie haben, die in den Vorschriften der §§ 307 ff. BGB n. F. über die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen eingeschränkt
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wird. Indem der Gesetzgeber unter bestimmten Voraussetzungen
? hier der Vereinbarung der VOB/B ?als Ganzes"
in Bauverträgen ? von einer Inhaltskontrolle der einzelnen Vorschriften
absieht, spart er diesen Bereich von der Einschränkung
der Privatautonomie aus und überlässt ihn der grundrechtlich
geschützten Privatautonomie , d. h. der ?Selbstbestimmung des
einzelnen im Rechtsleben" 54 im Vertrauen darauf, dass das von
ihm als angemessen und geeignet angesehene Regelwerk im Hinblick
auf die ihm zukommenden Besonderheiten auch künftig ?für
den Rechtsverkehr zwischen Individuen ein Höchstmaß beiderseitiger
Selbstbestimmung verwirklicht und dabei die Befugnisse
der an einem Rechtsgeschäft Beteiligten in einer die Anforderungen
des Sozialstaatsprinzips berücksichtigenden Weise verhältnismäßig
zuordnet"(55) . Der Verzicht des Gesetzgebers auf die
Einschränkung der Privatautonomie bedeutet jedoch keine Übertragung
von Normsetzungsbefugnissen auf Private. Die Diskussion
über die Frage, ob statische oder dynamische Verweisung,
führt daher nicht weiter(56) .
Der Gesetzesbegründung zu den §§ 308 und 309 BGB n. F. lässt sich denn auch unmittelbar entnehmen, dass der Gesetzgeber sich von der Privilegierung der VOB/B in ihrer jeweiligen Fassung hat leiten lassen. Dort heißt es wörtlich:
?Die Privilegierung erfasst die VOB/B in ihrer jeweils zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gültigen Fassung, da davon ausgegangen wird, dass die VOB/B in ihrer jeweils geltenden Fassung einen insgesamt angemessenen Interessenausgleich zwischen den an Bauverträgen Beteiligten schafft..." (57) .
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Dies bestätigt den vorstehend beschriebenen verfassungsrechtlichen
Ansatz. Selbst wenn sich die Privilegierung der VOB/B
jedoch im statischen Sinne nur auf diejenige Fassung bezöge, die
bei Schaffung der gesetzlichen Regelung in Kraft war, könnte die
Neufassung der Mängelansprüche in § 13 Nr. 4 VOB/B 2002 nicht
zur Unwirksamkeit dieser Bestimmung führen. Denn wenn der
Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts
die in der damals geltenden VOB/B 2000 enthaltene nur zweijährige
Verjährungsfrist gebilligt hat, kann nichts anderes gelten für
die zugunsten des Vertragspartners des Verwenders nunmehr auf
vier Jahre verdoppelte Verjährungsfrist.(58)
Als Ergebnis ist damit festzustellen, dass die Privilegierung der VOB/B im Sinne der Rechtsprechung des BGH auch nach dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts fortbesteht, sofern die VOB/B insgesamt in den Vertrag einbezogen ist.
VII. Zur praktischen Relevanz des Streits um die Privilegierung
Auch wenn das Ergebnis der vorliegenden Überlegungen im Hinblick auf Wortlaut und systematischen Aufbau der §§ 308, 309 BGB n. F. und deren Vergleich mit der Vorgängerregelung, ferner auch im Hinblick auf die Gesetzesbegründung recht eindeutig erscheint, verbleibt für den Praktiker des privaten Baurechts ein ungutes Gefühl, weil er mit dem Damoklesschwert leben muss, dass es noch keine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage gibt, ob die Privilegierungs-Rechtsprechung des BGH auch nach der Schuldrechtsreform weiterhin gültig ist oder die Verfechter des Wegfalls der Privilegierung am Ende Recht behalten, und dass nicht absehbar ist, wann es zu einer höchstrichterlichen Klärung kommt. Angesichts der Intensität und Heftigkeit,
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mit der in jüngster Zeit die Diskussion um die Privilegierung der
VOB/B 2002 geführt wird, kann allerdings vorhergesagt werden,
dass diese Diskussion noch nicht zu Ende ist und nicht ausgeschlossen
werden kann, dass es zu Abstrichen oder gar zur Aufgabe
der bisherigen BGH-Rechtsprechung kommen könnte.
Dabei sind zum einen die teils massiven Einwände und Zweifel zu sehen, die in der Literatur nach wie vor und in jüngster Zeit noch verstärkt gegen die Auffassung des BGH von der Ausgewogenheit der VOB/B vorgebracht werden(59). Dies lässt erwarten, dass der BGH bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit überprüfen und sich dazu äußern wird, ob die seiner bisherigen Rechtsprechung zugrunde liegende Bewertung der VOB/B auch auf deren jüngere und jüngste Versionen noch zutrifft, die bisher noch nicht auf dem Prüfstand gestanden haben, und ob der Gesetzgeber zu Recht die Bewertung als ausgewogenes Regelwerk im Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts übernommen bzw. als fortbestehend behandelt hat. Dass die in der inzwischen mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegenden Grundsatzentscheidung und den ihr folgenden späteren Entscheidungen vorgenommene Einschätzung der Ausgewogenheit der VOB/B Bestand haben wird, erscheint zwar angesichts der Verbesserungen und Annäherungen an die gesetzlichen Leitbilder, die die VOB/B seither erfahren hat, durchaus denkbar, jedoch nicht sicher. Da nach der bisherigen Rechtsprechung schon mehrere Bestimmungen der VOB/B einer isolierten Inhaltskontrolle nicht standgehalten haben, wird zu fragen sein, ob noch eine hinreichende Zahl anderer inhaltlich beanstandungsfreier Regelungen in der VOB/B vorhanden ist, so dass im Ergebnis noch immer die Ausgewogenheit des Regelwerks insgesamt festgestellt werden kann. Auch wären die Kriterien zu verdeutlichen, die die Feststellung der Ausgewogenheit erlauben.
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Zum anderen wird der BGH, sollte er an der Bewertung der
VOB/B als ausgewogenes Regelwerk und damit an der Gültigkeit
seiner bisherigen Privilegierungs-Rechtsprechung für die Zeit
bis zum In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Modernisierung des
Schuldrechts festhalten, auch entscheiden müssen, ob dies auch
für die Zeit danach noch gilt bzw. welche der in der Literatur vertretenen
Auffassungen zu der seit dem 01.01.2002 bestehenden
Rechtslage geteilt wird. Unverständlich ist, dass es der Gesetzgeber
überhaupt zu einer solchen Situation hat kommen lassen dadurch,
dass er es versäumt hat, im Rahmen des Gesetzes zur
Modernisierung des Schuldrechts durch eindeutige, jeden Zweifel
vermeidende Regelungen eine Diskussion zur Frage des Fortbestands
der Privilegierung der VOB/B zu vermeiden. Bedenklich
und bedauerlich ist zudem, dass der Wortlaut der Gesetzesbegründung
Zweifel aufkommen lässt, ob bei der Vorbereitung
der Gesetzesänderung die Grundlagen und der Inhalt der BGH-Rechtsprechung
zur Privilegierung überhaupt vollständig und
richtig erfasst wurden(60) . Mit geringem Aufwand wäre in den
§§ 307 ff. BGB n. F. eine eindeutige Regelung möglich gewesen, die die Entstehung der jetzigen Diskussion in der Literatur von
vornherein vermieden hätte. Angesichts dieser Diskussion wäre der Gesetzgeber gut beraten, wenn er nachbessern und dadurch im Sinne seiner Gesetzesbegründung Klarheit schaffen würde(61) .
Einige Autoren meinen, der Frage der Privilegierung der VOB/ B komme in der Praxis keine erhebliche Bedeutung zu, weil die meisten Bauverträge ohnehin Klauseln enthielten, die wesentliche Bestimmungen der VOB/B abändern, so dass diese nicht mehr ?als Ganzes" vereinbart bzw. nicht mehr in das Vertragsverhältnis ?insgesamt einbezogen" sei(62) . Die zwingende Konsequenz sei dann ohnehin nach der Rechtsprechung des BGH die Inhaltskontrolle jeder einzelnen verbliebenen Klausel der VOB/B. Dies
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mag zwar für eine Vielzahl von Verträgen zutreffen, hebt die Bedeutung
der Frage der Privilegierung jedoch nicht auf, weil es
immer eine erhebliche Zahl von Verträgen geben wird, denen die
VOB/B als Ganzes zugrunde liegt. Das Interesse der Vertragspartner,
von den für sie vorteilhaften Klauseln der VOB/B zu
profitieren und die Inhalts-Einzelkontrolle zu vermeiden, könnte
Anreiz sein, künftig bei der Vertragsgestaltung verstärkt ? gerade
auch in der Beratungspraxis ? darauf zu achten, dass die VOB/
B insgesamt einbezogen wird.
Auch dann verbleibt jedoch die oben bereits angesprochene Ungewissheit, wie letztlich der BGH entscheiden wird. Der Praktiker, z. B. der Rechtsanwalt, steht - gleichgültig, ob er Befürworter oder Gegner der Fortgeltung der Privilegierung der VOB/B ist - vor einem Dilemma bei der Frage, wie er in der nächsten Zeit im Rahmen streitiger Auseinandersetzungen über Bauverträge vorzugehen hat: Ist er persönlich der Ansicht, die Privilegierung der VOB/B bestehe auch nach der Schuldrechtsreform weiter, muss er in gerichtlichen oder außergerichtlichen Auseinandersetzungen über bereits bestehende, nach dem 01.01.2002 abgeschlossene Bauverträge trotzdem, wenn es die Interessenlage seines Mandanten erfordert, die Gegenposition einnehmen, also den Wegfall der Privilegierung geltend machen und auf dieser Grundlage für seinen Mandanten ungünstige Klauseln der VOB/B mit dem Argument der Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB n. F. als unwirksam angreifen. Hierzu wird man ihn im Hinblick auf den mit dem Mandanten abgeschlossenen Anwaltsvertrag, der die optimale Wahrnehmung der Interessen des Mandanten gebietet, als verpflichtet ansehen müssen. Bei der gegenteiligen Interessenlage seines Mandanten muss er die Fortgeltung der Privilegierung der VOB/B verteidigen, um seinem Mandanten nach Möglichkeit die günstigen Rechtsfolgen bestimmter Klauseln der VOB/B, die bei isolierter Betrachtung einer inhaltlichen Einzelkontrolle nicht standhalten könnten, zu erhalten. Für den Rechtsanwalt, der die Privilegierung der VOB/B insgesamt als durch die Schuldrechtsmodernisierung beseitigt ansieht, gelten die vorstehenden Überlegungen umgekehrt.
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Besonders schwierig wird es bei der Gestaltung neuer Bauverträge.
Wird die Geltung der VOB/B in ihrer Gesamtheit vorgesehen,
geht man das Risiko ein, dass es im Falle der Änderung
der BGH-Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle jeder einzelnen
Bestimmung der VOB/B - mit Ausnahme der in §§ 308 Nr. 5, 309
Nr. 8 b ff) BGB n. F. ausdrücklich angesprochenen Bestimmungen
- kommt und dabei ein Teil der VOB/B-Bestimmungen den Anforderungen
nicht standhält. Will man dieses Risiko vermeiden,
verbleibt nur die Möglichkeit, schon jetzt die ?problematischen"
Bestimmungen der VOB/B durch andere zu ersetzen, die für den
Vertragspartner günstiger sind, und auf diese Weise jeden Themenkomplex,
soweit dies zusätzlich zu den gesetzlichen Vorschriften
überhaupt notwendig ist, mit Regelungen zu versehen, die
nach den Anforderungen der §§ 307 ff. BGB n. F. ?unverdächtig"
sind. Dies wiederum würde bedeuten, dass die VOB/B nicht mehr
in den Vertrag ?insgesamt einbezogen" wäre, sondern in weiten
Teilen durch andere Regelungen ersetzt und damit im Grunde -
jedenfalls vorübergehend - überflüssig geworden wäre.
Zwar sind es Rechtsanwälte gewohnt, mit Rechtsunsicherheit zu leben und gleichwohl unter Beachtung des Prinzips des sichersten Weges für ihre Mandanten brauchbare Lösungen anzustreben, die allen Eventualitäten nach Möglichkeit gerecht werden. Die Fragen und Risiken allerdings, die der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform im Zusammenhang mit der Privilegierung der VOB/B durch die Gestaltung der §§ 307 ff. BGB n. F. verursacht hat, sind ? auch und gerade unter wirtschaftlichem Aspekt ? so gewichtig, dass die oben bereits als notwendig reklamierte Nachbesserung des Gesetzes keinen Aufschub duldet(63) .
Demgegenüber erscheint es jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt (noch) nicht erforderlich, die VOB/B insgesamt so zu überarbeiten und zu ändern, dass jede einzelne Regelung auch bei isolierter Inhaltskontrolle den Anforderungen der §§ 307 ff. BGB n. F.
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entspricht(64) . Abgesehen davon, dass wohl in absehbarer Zeit feststehen
wird, ob mit einer baldigen Nachbesserung durch den
Gesetzgeber zu rechnen ist, kann man es - wie das Ergebnis dieser
Abhandlung auf der Grundlage der jetzigen Gesetzesfassung
zeigt - durchaus auf eine Entscheidung des BGH ankommen lassen.
Für die Zeit bis zu einer solchen Entscheidung müsste allerdings
bei der Gestaltung von Bauverträgen - wie oben bereits
angedeutet - Vorsorge getroffen werden, damit wesentliche Regelungen
nicht für den Fall einer Einschränkung oder Verwerfung
der Privilegierung der VOB/B insgesamt betroffen sind. Dies
käme allerdings einem vorübergehenden Teilverzicht auf die Vereinbarung
der VOB/B ?als Ganzes" bis zu einer abschließenden
Klärung gleich.
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